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Wirtschaft und Moral

Gibt es in unserer Wirtschaftordnung Platz für Moral?

Rede von Stefan Teplan an der Fach-Hochschule für Betriebswirtschaft in Landshut 1979

Meine Damen und Herren!

Wenn ich im Folgenden Ihnen – Dozenten und Studenten an einer Hochschule der Betriebswirtschaft – darlegen werde, dass in unserer Wirtschaftsordnung kein Platz für Moral ist, so werde ich damit ungleich mehr Schwierigkeiten haben, Ihre Zustimmung und Sympathie zu gewinnen als mein Kollege aus dem Parallel-Semester, der Ihnen genau das Gegenteil beweisen möchte. Hieße das doch, Ihnen allen unverfroren ins Gesicht zu sagen, dass Sie  – und auch ich – uns hier jahrelang mit Unmoralischem beschäftigen, ja, unser ganzes Leben für unmoralische Zwecke einzusetzen gedenken.

Aus der Geschichte ist uns ja bekannt, dass, wo es um wirtschaftliches Wohl ging, man noch nie besonders heikel war, was das menschliche Wohl anbetraf, siehe Sklaverei, siehe Kinderarbeit, siehe kapitalistische Ausbeutung. Doch das sind bei uns Dinge der Vergangenheit und es ist heute, so scheint es, endgültig damit vorbei – spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Denn da knobelte man in der Bundesrepublik Deutschland eine neue und menschenwürdige Wirtschaftsordnung aus: die soziale Marktwirtschaft.

Wie Sie wissen, muss dabei sehr viel produziert und sollte genau so viel abgesetzt werden. Wettbewerb, Gewinnmaximierung, Wirtschaftswachstum sorgen dafür, dass die Produktion ständig gesteigert wird; der Erfolg eines Unternehmens wird denn auch gemessen am Zuwachs seiner Produktionsrate: Je mehr, desto besser. Im wahrsten Sinne des Wortes geht hier Quantität vor Qualität, denn qualitativ hochwertige Güter – nehmen wir zum Beispiel einmal Autos – haben den Nachteil, länger haltbar zu sein. Das ist zweifellos schlecht – für die Produktions- und Absatzziffern. Was also ist zu tun? Ganz einfach: Der Produzent muss Autos mit schlechterem Blech bauen, der Konsument muss mehr blechen: nämlich für drei mehr oder weniger schnelle, auf jeden Fall schnell verwesliche Autos anstatt für ein länger haltbares.

Sie sehen daran, meine Damen und Herren, dass hier nicht die Wirtschaft nach dem Menschen, sondern vielmehr der Mensch nach der Wirtschaft ausgerichtet wird. Der Mensch in der Industriegesellschaft hat sich gefälligst nach der Wirtschaft zu richten – und so liegt auch sein Wohl nicht in seelischem Glück, Liebe und innerer Zufriedenheit, sondern in wirtschaftlichem Wohlstand. Wir sind von einer wahren Seuche des ökonomischen Nutzdenkens befallen, die – und das ist das ist Schlimme daran – unsere menschlichen Werte langsam zerstört und unseren mitmenschlichen Beziehungen, unseren sittlichen Normen, unserer Moral den langsamen Tod bereitet. Der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm wies darauf hin, dass in früheren Gesellschaften und Kulturen das wirtschaftliche Verhalten bestimmt gewesen sei durch die jeweiligen ethischen und moralischen Normen, heute aber die Wirtschaft die ethischen Werte bestimme.[i] Ich zitiere hierzu einen Ausspruch Schumachers. „Die Wirtschaft als Lebensinhalt ist eine tödliche Krankheit, denn unbegrenztes Wachstum passt nicht in eine begrenzte Welt. Dass die Wirtschaft nicht Lebensinhalt sein sollte, ist der Menschheit von allen ihren großen Lehrern gesagt worden; dass sie es nicht sein kann, ist heute evident. Will man diese tödliche Krankheit weiter beschreiben, so könnte man sagen, sie habe Ähnlichkeit mit einer Sucht wie dem Alkoholismus oder dem Drogenmissbrauch … Wenn die geistige Kultur, die Kultur des inneren Menschen, vernachlässigt wird, dann bleibt die Selbstsucht die dominierende Macht. Ein auf Egoismus basierendes System wie der Kapitalismus passt besser zu dieser Orientierung als ein System der Liebe zu seinen Mitmenschen.“[ii]

Wenn Sie sich die Mühe machen wollen, meine sehr verehrten Zuhörerinnen und Zuhörer, prüfen Sie doch einmal im Bereich Ihrer eigenen Alltagserfahrungen nach, welcher Geist da vorherrscht: der der Nächstenliebe oder der der Selbstbezogenheit, der Partnerschaft oder der Gegnerschaft? Muss nicht jeder ständig – angestachelt von einem unbarmherzigen Leistungsdruck und Erfolgszwang – krampfhaft auf seinen eigenen Vorteil bedacht sein, um im Wettrennen mitzuhalten oder, noch besser, dabei möglichst noch seinen Gegner zu überflügeln? Wer hart ist, eifrig und zielstrebig, kommt voran; moralische Werte wie Hilfsbereitschaft, Mitleid, Liebe dienen dem Erfolg nicht, vielmehr behindern sie ihn. Also regiert der Egoismus!

Der Psychologe Peter Lauster schreibt, dass der Egoismus sogar in Seminaren für Führungskräfte als Taktik für den beruflichen Erfolg gelehrt werde. Er berichtet dabei von den so genannten „Machiavelli-Seminaren“ der amerikanischen Cornell’s Graduate School Of Business And Public Administration und behauptet, alle Managerschulungen liefen im Grunde auf das Machiavelli-Prinzip hinaus. Zum Verständnis: Machiavelli war ein Staatsphilosoph, der eine Erfolgslehre aufstellte, in der Macht und Erfolg sich rücksichtslos über alle moralischen Grundsätze hinwegsetzen müssen. Nach Peter Lauster zeigt diese Machiavelli-Persönlichkeitsstruktur folgende Merkmale:

„Gefühle werden zurückgedrängt und das persönliche Auftreten wird so weit als möglich emotionslos gehalten, damit keine Regung etwas über die vorgesehene Taktik verrät.

Der Mitmensch wird als ein objektartiges Subjekt auf einem Schachbrett angesehen. Er wird emotionslos, mitleidlos, unabhängig von moralischen Bedenken manipuliert.

Moralische Bedenken spielen für den Machiavellisten keine Rolle, weil nur der erreichte Erfolg zählt, auch wenn er mit Selbstbetrug und Lüge zu Stande kommt.

Wichtig ist die realistische und ‚knallharte‘ Realitätsangepasstheit. Die einzig gültigen Idole sind Macht und Erfolg. Der Machiavellist macht sich keine Gedanken über die Verbesserung der Gesellschaft, sondern versucht, von Missständen und Schwächen der Mitmenschen und der Gesellschaft (zum Beispiel Gesetzeslücken) ‚legal‘ zu profitieren.

Es zählt einzig und allein das konkret Machbare, das einen persönlichen Vorteil bringt, auch wenn andere dabei einen Nachteil erleiden.“[iii]

Es ist, meine Damen und Herren, vielleicht noch interessant zu wissen, dass Machiavelli 1469 geboren wurde – meiner Ansicht nach 500 Jahre zu früh. Er durfte vieles nicht mehr erleben.

Ich habe Ihnen nun also eine der grundlegendsten Eigenschaften der sozialen Marktwirtschaft vorgestellt: das Wettbewerbsprinzip, das sich, wie wir gesehen haben, nicht nur auf den wirtschaftlichen Bereich allein erstreckt. Lassen Sie mich jetzt zu einer weiteren Seite dieses Systems übergehen: Eine Marktwirtschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass – ich zitiere eine Definition aus dem „Handlexikon zur Politikwissenschaft“ –[iv] „die Lenkung des Wirtschaftsprozesses dem Marktautomatismus überlassen wird, der die freien Entscheidungen der selbstverantwortlichen privaten Wirtschaftssubjekte über Kauf und Verkauf mit Hilfe des Preismechanismus koordiniert.“ Das klingt sehr kompliziert, bedeutet aber im Grunde nichts anderes als das uns bekannte Gesetz von Angebot und Nachfrage. Angeblich ist es nur auf den Warenmarkt beschränkt, in Wirklichkeit aber wirkt es genau so wie das Wettbewerbsprinzip in den menschlichen Bereich hinein. Wir sehen das schon an der Redewendung, ein Mensch sei „gefragt“. Zwar ist der Mensch heute durch soziale Gesetzgebung vor ausbeuterischen Methoden, wie sie im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts praktiziert wurden, zum größten Teil geschützt, doch die Marxsche Kritik, der Mensch sei nur eine Ware auf dem Arbeitsmarkt, trifft immer noch zu. Für den Unternehmer ist der Mensch nur ein Arbeitsapparat, den er sich für eine gewisse Summe kaufen kann. Er kann dabei noch ein gutes soziales Gewissen haben, denn schließlich gibt er einem Menschen Arbeit und gewährleistet so die Sicherung seiner Existenz. Wie weit das soziale Gewissen aber geht, wird besonders seit einigen Jahren deutlich, als sich vermehrt Chancen boten, den Kostenfaktor Mensch auf vielen Gebieten zu ersetzen: das Zauberwort heißt Rationalisierung. Denken Sie an die EDV, denken Sie an den Streit in der Druckereibranche vor einem Jahr.

Betriebswirtschaftlich gesehen ist eine einmalige Anschaffung einer Computeranlage natürlich rentabler als einem Dutzend Arbeiter Monat für Monat Geld zuzustecken. Die Kostenfrage entscheidet stets; deshalb produzieren deutsche Unternehmer auch lieber in unterentwickelten Ländern, wo die Arbeitskräfte nur einen Bruchteil der hiesigen Lohnsätze kosten.

Wo der Mensch nur noch ein ersetzbares Arbeitsmittel mit einem bestimmten Preis ist, ist jedoch kein Platz für Menschenwürde und Moral. Da wird der Mensch degradiert zu einem Objekt, das funktionieren muss und weggeworfen werden kann, wenn es nicht mehr benötigt wird.

Ein Mercedes gilt mehr als ein VW, ein Direktor mehr als ein Verkäufer; die Achtung, die der Mensch genießt, hängt von seinem „Marktwert“ ab. Einen sehr hohen Marktwert besitzen beispielsweise Sportler und Pop-Stars. So ließ auch eine US-amerikanische Schallplattenfirma den Pop-Sänger Elton John auf 50 Millionen Dollar versichern. Der Mensch muss sich zwangsweise erleben als „Gebrauchswert“, als „Tauschwert auf dem Persönlichkeitsmarkt“[v]. Das Verhältnis der Menschen zueinander wird davon bestimmt, was man vom anderen hat, was einem der andere bringt. „Noch die intimste Bindung“, schreibt der Soziologe Arno Plack, „wird Bindung von Gnaden des Erfolgs.“[vi] Plack berichtet in diesem Zusammenhang von einer jungen Dame, die ihm erzählt habe, sie habe ein Töchterheim besucht, „in dem die Mädchen von den Erzieherinnen angehalten werden, junge Männer beim Kennenlernen immer sofort und als erstes nach Beruf und Berufsaussichten zu fragen“ und kommt zu dem Schluss, man dürfe sich nicht wundern, dass dem „Ethos des Erfolges auch die entsprechenden moralischen Anstalten erwachsen.“[vii]

Man mag mir nun entgegenhalten, dies alles sei doch sehr übertrieben und gerade in unserer Zeit bemühten sich die Unternehmer um humane Arbeitsplätze und Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen im Betrieb. Wie passt das zu dem gezeigten Bild? Haben die Führungsspitzen plötzlich die Liebe zum Mitmenschen entdeckt? Oder was sonst veranlasst sie zu solchen Schritten? – Beileibe nicht moralische Gründe, es sei denn „wirtschaftsmoralische“ und das heißt übersetzt: die Gier nach ständig größerer Leistung und Produktion. Man hat klug erkannt, dass der Mensch in einem freundlichen Klima mehr Willen zur Leistung zeigt; ich zitiere hierzu aus dem „Wöhe“, der „Bibel des Betriebswirtschaftlers“, wie ein Dozent an dieser Hochschule einmal bemerkte: „Herrscht zwischen den Angehörigen eines Betriebes Neid, Missgunst und Misstrauen … dann wirkt sich ein solchermaßen gestörtes Betriebsklima hemmend auf den Produktionsprozess aus. Fühlt sich der Arbeitnehmer durch seine Vorgesetzten in seiner Menschenwürde missachtet, glaubt er, dass er durch sie falsch beurteilt und ungerecht behandelt wird … wird er sehr schnell der Arbeit im Betriebe überdrüssig, dann wird der Betrieb nicht mehr mit seinem vollen Arbeitseinsatz …rechnen können.“[viii]

Ich bleibe also bei meiner Behauptung: Der Mensch wird – in der Arbeitswelt wie auch in seiner privaten Sphäre – nicht mehr als Mensch geachtet, sondern gewinnt nur Wert durch seine wirtschaftliche Leistung.

Was ich als ein wichtiges, ja vielleicht das hauptsächliche Charakteristikum des modernen Industriemenschen ansehe ist, dass er kaum noch ein Charakteristikum besitzt. Er ist genau so genormt wie die Massenkonsumgüter, die er in Massenproduktion herstellt.  Er wird immer unpersönlicher und verliert allmählich seine Identität. Die Redewendung, der Mensch sei bald nur mehr eine Nummer, hat die EDV in wenigen Jahren vielleicht schon sprichwörtlich wahr gemacht. Dadurch würde sich der Begriff der Moral erübrigen, denn gegenüber einer Nummer kann ich mich nicht moralisch oder unmoralisch verhalten. Meine Beziehung zum Mitmenschen kann dann von keiner sittlichen Norm mehr getragen sein; es ist die Beziehung von einem Automaten zu einem Automaten. Wo es Menschen gibt, da gibt es Moral; eine Entmenschlichung führt zwangsweise zu einer Entmoralisierung. So wird nicht nur die Moral aufgelöst, sondern der gesamte Begriff der Moral. Wir können dieses Wort – das uns doch heute schon etwas sehr abstrakt erscheint – dann aus unserem Vokabular streichen, so wie die Sowjet-Union den Begriff „Menschenrechte“ nicht akzeptiert.

Und die Frage „Gibt es in unserer Wirtschaftsordnung Platz für Moral?“ können wir nicht mehr mit Nein beantworten, sondern überhaupt nicht oder höchstens so: „Es gibt nur Wirtschaft.“

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss kommen. Der Versuch, eine gerechte und menschenwürdige Wirtschaftsordnung zu errichten, ist – so viel kann man abschließend urteilen – gescheitert. Die Gründe sind:

  1. Man hat den wirtschaftlichen Fortschritt zum Selbstzweck erhoben und die ethischen und moralischen Werte des menschlichen Zusammenlebens dabei übergangen.
  2. Man hat den Menschen selbst zu einem Objekt auf dem wirtschaftlichen Markt gemacht und so die Achtung und Würde vor seiner Natur verloren und
  3. Man hat durch die totale Entfremdung und Entpersonalisierung die Zukunft des Menschen als Mensch auf das Äußerste bedroht und so dem Bestehen einer Moral jeglichen Boden entzogen.

Zu warten und zu hoffen ist auf eine neue Konzeption einer gerechten und menschlichen Wirtschaftsform, wozu in diversen wirtschaftswissenschaftlichen Theorien – ich nenne als ein Beispiel jene von Ota Sik – bereits Ansätze zu finden sind.

Ich danke Ihnen allen sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.


[i] Fromm, Erich, Haben oder Sein, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart, 1976

[ii] a.a.O., S.

[iii] Lauster, Peter, Lassen Sie sich nichts gefallen, Econ Verlag, Wien und Düsseldorf,1976, S. 135 f.

[iv] Görlitz, Axel, Handlexikon zur Politikwissenschaft, Franz Ehrenwirt KG, München 1972, S. 234

[v] Fromm, Erich, Haben oder Sein, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1976, S. 144

[vi] Plack, Arno, Die Gesellschaft und das Böse, Paul List Verlag, München 1967

[vii] a.a.O.

[viii] Wöhe, Günther, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Frazn Vahlen Verlag, München 1975

Ferner wurden zum Studium verwendet:

Ottomeyer, Klaus, Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1977

Ostermeyer, Helmut, Die Revolution der Vernunft, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1977

 

© Stefan Teplan, 1979

2 Antworten to “Wirtschaft und Moral”

  1. Ich bewundere ihr Talent solche Texte zu verfassen!

  2. 🙂 Danke für das Kompliment. Das war eine Jugendarbeit aus meiner Studentenzeit für das Fach „Rhetorik“.


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